Von Inge Brose-Müller am 21. November 2015
Goldener Herbst - Goldene Stadt - Goldene Schallplatte - "dein goldenes Haar Margarete" (Paul Celan, Todesfuge):
Es ist nicht alles Gold, was glänzt, aber Gold gilt uns als etwas besonders Kostbares. Wie jede Münze hat Gold zwei Seiten. Der mythische König Midas verwandelte nach seinem raffgierigen Wunsch alles, was er berührte, zu Gold und musste verhungern. Doch das "Leben im Goldenen Wind" hat eine andere Dimension. Waren alle angeführten Beispiele äußerlich, so führt der Goldene Wind ins Innere des Menschen.
Er ist der Herbstwind, weht in der Zeit der Reife.
Diesen Erfahrungsraum öffnet Erhard Meyer-Galow mit seinem Buch "Leben im Goldenen Wind". Mehr noch geht seine Überzeugungskraft von seiner Persönlichkeit aus. Er kennt das Problem, über das viele in der Lebensmitte jammern, aus eigener Erfahrung. Der große Manager erleidet privat und beruflich Schiffbruch. Aus dem Tief findet er durch Zen-Meditation heraus, die er bis heute praktiziert, und wird noch erfolgreicher. Seinen Weg vom Ego zum Selbst will er darstellen und damit Wege auch für andere, die in schwierigem Fahrwasser sind, öffnen. Er stülpt den Zuhörern nichts über. Immer sagt er: "Ich würde mich sehr freuen, wenn ..." oder "Versuche jenes, wenn du magst ...!" Freiheit muss sein. Unter diesen Auspizien lässt man sich leichter auf ein Buch ein, das etwas von einer Autobiographie hat, nicht direkt als Lebenshilfe auftritt, sondern erzählt und viele gescheite und erleuchtete Menschen zu Wort kommen lässt. Andrerseits, warum sollte man sich nicht helfen lassen, indem man neue Gedanken und Gefühle aufnimmt?
Rückenwind erhält das Buch durch zwei Vorworte von Meyer-Galows Meistern und Freunden, Willigis Jäger und Walter Schwery. Schon in der antiken Rhetorik pflegte man Autoritätspersonen als Garanten des rechten Wegs heranzuziehen.
Doch dann beginnt Meyer-Galow in sehr erfrischender Art seinen Untertitel zu erläutern - mit Augenzwinkern zu Harpe Kerkeling. JETZT BIN ICH ENDLICH MAL DA! In der Form eines Akrostichons füllt er jedes der Worte mit ernstem Sinn. Man ahnt, wie wichtig das Dasein im JETZT ist. Was hier angerührt wird, entfaltet das Buch.
Beim empfohlenen Skandieren von ENDLICH MAL DA! unterläuft ein kleiner Fehler; selbst wenn man die Hauptbetonung auf DA legen will, beginnt dieser "Vers" mit einer betonten Silbe, der zwei unbetonte folgen, und das ist kein Anapäst, sondern ein Daktylus. Doch diese Bemerkung ist reines Wissen und führt nicht zum Wesentlichen des Buches!
Ein weiterer sachlicher Fehler aus einem Interview sei angemerkt. Auf S. 26 steht: "In den 30er Jahren vermuteten Jünger, Klages und Rathenau, dass die neue Moderne schon angefangen hätte." Das war Rathenau nicht möglich, er wurde 1922 aus politischen Gründen ermordet.
Wichtig erscheint mir, dass der Autor ein persönliches Verhältnis zum Leser aufbaut: "Ich erkläre Ihnen aus meiner Erfahrung zuerst die Zusammenhänge und führe Sie dann durch Ihre Übungen. ... Sie können Ihr Leid verringern und glücklich werden."
Die Ursache allen Übels , das den Menschen an seiner wahren Bestimmung hindert, sieht Meyer-Galow in dem Streben nach äußerem Wachstum. Weltkrise, Banken-Crash gehen auf die ungezügelte Gewinnmaximierung zurück. Gewiss haben wir keinen direkten Einfluss darauf, aber bei sich selbst kann man beginnen, seine Werte neu zu erkennen und Wohlergehen statt Wohlstand zu erlangen. Dann wirkt man auch nach außen.
Wer den bemerkenswerten Lebensweg des Autors kennen lernen will, muss das Buch lesen!
Erhard Meyer-Galow lässt uns teilhaben an der Begegnung mit seinen vier "Weg-Weisen": Karlfried Graf Dürckheim, Willigis Jäger, Robert Fahlbusch und Walter Schwery. Durch Vorbehalte und Fortschritte des Autors fühlt sich der Leser nicht fremd in den Erfahrungen und lernt in den zahlreichen Zitaten die Haltung und Lehre der Meister kennen.
Worum geht es?
Körper, Seele, Geist sollen in Einklang kommen, damit der Mensch heil sein kann. Er legt das äußere Streben des Egos ab, konzentriert sich auf seinen Leben spendenden Atem und findet den Weg zu seinem numinosen Kern im Innern, zu seinem Selbst als Wirklichkeit. Und das geschieht im Augenblick, nicht früher und nicht später.
In der Terminologie von Erhard Meyer-Galow und seinen Meistern ist das aber weitaus differenzierter formuliert. Die Reichhaltigkeit an fernöstlicher Weisheit überfordert den Neuleser ein bisschen, für andere ist sie angemessen. Ein Glossar am Ende des Buches definiert ungewohnte Begriffe.
Dem dritten Lebensdrittel widmet der Autor besondere Aufmerksamkeit, es ist die Phase, in der der Sinn des Lebens erfahren werden kann, und das ist nach Willigis Jäger die eigene Identität, mein eigenes Selbst. Dürckheim formuliert:
"Der Sinn des Lebens ist die Transparenz für die immanente Transzendenz".
Wir sollen lernen, für das Göttliche, das immer da ist, offen zu werden und es in der täglichen Übung zu erfahren. Das Göttliche in uns soll durchscheinen. Wir selbst und andere werden es beim Fortschreiten unserer inneren Reifung spüren können. Es kehrt ein innerer Friede ein, der uns ins Gleichgewicht bringt.
Wie kann das geschehen?
In den Erfahrungsräumen, in denen wir uns bewegen, müssen wir, so fordert Erhard Meyer-Galow, mit mehr Achtsamkeit vorgehen. Das steigert die Qualität des Lebens, setzt aber Übung voraus, Dasein in der Wirklichkeit des Augenblicks.
Nach Meinung des Autors braucht der Mensch auf dem Weg zu seinem Selbst einen wissenden oder erleuchteten Begleiter, der zur Individuation anleitet.
Wenn ich Achtsamkeit nach den Ausführungen und Interviews richtig verstehe, liegt sie in der immer wiederkehrenden Anfangsfrage: Was spüre ich? Zur Achtsamkeit muss man sich willentlich entschließen. Nur damit ist man in der Lage, "die Lücke zwischen den Gedanken", die Leere, zu erfahren. Derart gelangt man zur Meditation, spürt den GOLDENEN WIND.
Die Methoden, mit denen der Mensch sein Heilwerden lenken kann, können hier nicht ausführlich dargestellt werden; es sei aber noch ein Blick auf die Erfahrungsräume geworfen.
Zwölf werden genannt: 1. Arbeit und Werk, 2. Krankheit - Tod, 3. Natur, 4. Tiere, 5. Musik, 6. Tanz, 7. Sport, 8. Bildende Kunst, 9. Malen, 10. Begegnung, 11. Religion, 12. Alltag.
Theater, Literatur und Sprache fallen leider nur unter "u.s.w."! Aber die Liste ist für jeden erweiterbar. Die Nichtberücksichtigung der Literatur erklärt vielleicht auch, warum auf S. 85 aus unerfindlichen Gründen Hermann Hesses Gedicht "Stufen" in Prosa umgesetzt ist. Der Inhalt wird zwar hoch geschätzt, aber die Form ist Teil der Aussage. Gerade die lyrische Form löst ästhetisches Behagen aus, das von der Hektik wegführt und vielleicht auch zur Meditation hinleiten kann.
Umgekehrt kann man mit dem, was man aus diesem Buch aufnimmt, auch Literatur neu deuten, wenn Faust z. B. in seiner Wissenschaftsverdrossenheit sagt:
"Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen": (V. 1112f.)
Ist das nicht die Auseinandersetzung von Selbst und Ego?
Oder:
"Erquickung hast du nicht gewonnen,
Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt." (V. 569f.)
Woher soll die Heilung kommen, wenn nicht aus unserer Selbst-Besinnung?
Doch zurück zu den Erfahrungsräumen des Buchs!
Arbeit und Werk nehmen das zweite Lebensdrittel ein. Arbeit ist das Tätigsein und Werk das Geschaffene, auf das man als gelungen blicken kann. Aus der Beschreibung von Meyer-Galows Zeit bei Brenntag, Stinnes und Hüls leuchtet ein Satz als Erkenntnis hervor: "Die Menschen und das Miteinander sind ausschlaggebend für den Erfolg" (S. 170). Der Autor zeigt, wie auch Sanierungsaufgaben gelingen können, ohne die Menschen oder sich selbst zu beschädigen. Er gelangt durch Meditation in die Haltung, den GOLDENEN WIND zu spüren und den Arbeitstag mit Sinn zu gestalten. Diese Ausstrahlung, in der der Mitmensch wichtig ist, hat sein Berufsleben bestimmt.
Aber auch in Sachentscheidungen, die er z.T. intuitiv getroffen hat und bei der er die Umweltverträglichkeit im Blick hatte, fühlt er sich nachträglich durch die Neue Physik (Heisenberg, Dürr) bestätigt.
Das Erfahrungsfeld Krankheit und Tod zu verdrängen, ist der Mensch in der dritten Lebensphase besonders bereit, weil es nahe gerückt ist. Damit es nicht Macht über einen bekommt, muss man Krankheit und Tod annehmen und letzten Endes loslassen. Nach C.G. Jung liegt die Ursache des Krankseins in der Trennung vom Numinosen, vom spirituellen Innenleben. Und nach Meyer-Galow muss man diese Störung des Gesundseins als Chance zur Reifung erleben. Man könne dadurch eine höhere Bewusstseinsstufe erlangen (S.220).
Allerdings muss ich zugeben, dass mir die Aussagen über den Tod, die Walter Schwery darstellt (bes. S. 233f.) und die aus dem Tibetanischen Buddhismus herrühren, sehr fremd erscheinen. Näher kommt mir die Aussage des Mystikers Meister Eckhart: "Krankheit ist das schnellste Ross, das uns zur Vollkommenheit führt" (S. 263). Auch die zentrale Erkenntnis von Hans Peter Dürr in diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden: "Liebe ist der Urquell des Kosmos" (S. 261).
Deswegen ist der Erfahrungsraum Natur von besonderer Bedeutung, wenn man nicht nur Erholung sucht, sondern sich verwurzelt und das große Ganze in sich spürt.
Auch die Erfahrungsräume Tiere, Musik, Tanz, Sport führen auf ähnliche Weise zur Meditation, in die Erhard Meyer-Galow einführen will. Und immer wieder spürt man die Freude des Erlebens.
Den Erfahrungsraum Bildende Kunst erschließt der Autor in Gesprächen, in denen klar wird, dass das Künstlerisch-Tätig-Sein die Selbstfindung fördert, dass Kunst nur entsteht, wenn der innere Kern des Menschen sich äußert - gleichbedeutend, ob mit Kohlestiften, Farbe oder ob mit der Plastik der Raum erst geschaffen wird! Der echten Kunst merkt man an, dass sie lebt.
In dem Gespräch mit Meyer-Galow sagt der Maler Hanspeter Münch: "Ferner habe ich gespürt, dass die Tradierung der Natur in der Kunst, in der Malerei eine zweite Natur schafft" (S.371). Das zeigt nicht nur, dass die Erfahrungsfelder zusammenhängen, sondern: Die Kunst ist ein zweiter Schöpfungsakt! Diesen kann man sowohl im Malen wie im Betrachten erleben.
In dem Zusammenhang wiederholt der Autor Albert Einsteins Ausspruch:
"Das Schönste, was wir erfahren können, ist das Mysteriöse,
Es ist der Quell aller wahren Kunst und Wissenschaft!" (S. 372)
Das zu spüren, ist Gnade, in Meyer-Galows Diktion: der GOLDENE WIND.
Einen Höhepunkt erreicht das Buch in dem Erfahrungsraum Begegnung, ganz besonders in der Einladung eines indianischen Stammesältesten:
"Es interessiert mich nicht, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst. Ich möchte wissen, wonach du innerlich schreist und ob du zu träumen wagst, der Sehnsucht deines Herzens zu begegnen. ... Ich will wissen, was dich von innen hält, wenn sonst alles wegfällt. Ich will wissen, ob
du allein sein kannst und in den leeren Momenten wirklich gern mit dir zusammen bist" (S. 387).
Erhard Meyer-Galow konzentriert die Erfahrungen in der Begegnung auf den Satz von H.E. Richter: "Nur, wer mit sich selbst ausgesöhnt ist, kann mit anderen fürsorglich umgehen" (S. 389). Und der Autor hält fest: "In der Begegnung kann gelebte LIEBE aufleuchten. Das ist der Sinn der Begegnung" (S. 190).
In dem letzten Kapitel "Blockaden der Individuation" beschreibt Meyer-Galow Rückfälle aus der Vorwärtsbewegung des Individuums, um zu zeigen, dass auch mit Meditation nicht alles sofort gelingen kann. In einem Interview mit Walter Schwery versucht er, mit C.G. Jungs Terminologie die Gefährdungen und die Möglichkeiten des Menschen aufzuarbeiten. Noch einmal werden die Vorstellungen verschiedener Glaubensrichtungen miteinander verknüpft. Hier soll der ganze Themenkomplex gesammelt werden.
Schade, dass Walter Schwery den armen Schiller so falsch zitiert! Nicht nur, dass er die Verszeilen frei zusammensetzt, er lässt den Taucher einen goldenen Ring aus dem Abgrund retten, den Schwery als "Symbol der Ganzheit, ... ein Mandala des SELBST oder des INNEREN GELIEBTEN" deutet. In der Ballade wirft der König einen goldenen Becher "in der Charybde Geheul"! Passt dann die Symboldeutung noch?
"Der Rittersmann sagte dann zu dem, der die Mutprobe bestanden hat: <Dort unten ist es fürchterlich ... was die Götter verdeckten zu schauen.>" Leider falsch! Nur der Knappe, der sich in den Schlund stürzte, weiß über den Abgrund Bescheid, und er spricht zum König in etwas anderen Worten!
Kurz vor Ende des Kapitels unterstellt Schwery Hölderlin die Allerweltsweisheit "Wo die Gefahr am größten, ist das Rettende nah" (S.420). Hölderlin aber schreibt in seinem Gedicht
"Patmos
Nah ist
und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende auch."
Müsste ein Lektor Fehler dieser Art nicht merken?
In der authentischen Form bietet der Gedichtanfang große Erkenntnismöglichkeiten für das "LEBEN IM GOLDENEN WIND", er bestätigt genau die Erfahrung des Autors, dass der Weg zur Individuation meist in der Katastrophe beginnt und dann in die qualitative Veränderung führt.
Doch wie klein werden solche Mängel-Beobachtungen, wenn man bedenkt, was das Gespräch lehrt: Wir haben einen dunklen Bruder, einen Schatten in uns, der sich als Teil unserer Psyche immer wieder meldet, und das Heilmittel gegen diese böse Seite ist die Sophia, die den dunklen Bruder ins Bewusstsein hebt und dadurch entmachtet. Festzuhalten ist der Gedanke, dass man diese Vorgänge zulassen muss, aus dem Lassen wird Gelassenheit.
Erhard Meyer-Galows LEBEN IM GOLDENEN WIND habe ich mit wachsendem Interesse, auch mit aufkommender Kritik, aber mit großem inneren Gewinn gelesen. Wie Caspar David Friedrichs Mönch stehe ich am Meer und habe als kleiner Mensch im dritten Lebensdrittel den weiten Horizont vor mir. Es wird MEINEN Weg geben.
Mannheim, den 17.10.2015 Inge Brose-Müller
Quelle: http://www.amazon.de/gp/cdp/member-reviews/A224K5IUV3FZYH/ref=pdp_new